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Doris Lessing: Die Memoiren einer Überlebenden

In ihrem 1974 erschienenen Buch „Die Memoiren einer Überlebenden“ beschreibt die englische Autorin Doris Lessing eine seltsame, aufwühlende Situation in einer namenlosen Stadt. Dem völlig unaufgeregten Ton der Ich-Erzählerin, einer älteren alleinstehenden Dame, ist es zu verdanken, dass man ganz behutsam in eine Welt entführt wird, die sich als Dystopie entpuppt. Man erfährt von ihrem einsamen Leben in einer bizarren, zerstörten Welt, aus der sie sich zurückgezogen hat in ihre Wohnung mit weißen Wänden, deren verblasste Tapetenblütenmuster sie zu Ausflügen in eine visionäre Welt verführen.

Eines Tages bringt ein Mann ein 12jähriges Mädchen zu ihr, das zusammen mit einem hässlichen Katzenhund ihre Wohnung teilt. Die drei leben distanziert nebeneinander ohne direktere zwischenmenschliche Beziehung. Die alte Dame beobachtet das Heranwachsen, die Entwicklung des Mädchens, das mit abgöttischer Liebe an ihrem Hund hängt, während die Wohnungsinhaberin wie eine Haushälterin sich um Lebensmittel kümmert. Erst allmählich erfährt der Leser, wie die Außenwelt aussieht: eine aus den Fugen geratene Gesellschaft, zweigeteilt in einen bürokratischen funktionierenden und einen ungeordnet ums Überleben kämpfenden Teil. Die Autorin gibt keine Hinweise auf ein explizites Unglück. Man erfährt nur, dass Bevölkerungsgruppen vom Süden aus weiter nach Norden ziehen, aus einer zerstörten Stadt, in der es keine funktionierende Infrastruktur mehr gibt. Menschen durchsuchen verlassene Häuser nach brauchbaren Dingen, sammeln Gegenstände zum Tausch gegen Lebensmittel. Man erfährt von Menschengruppen, die in fremde Häuser einziehen, Gärten anlegen, Tiere auf den Stockwerken halten oder auch auf der Dachterrasse eines mehrstöckigen Hauses ihr Lager haben.

Das heranwachsende Mädchen, für das sich die Dame verantwortlich fühlt, sucht den Kontakt zu jungen Menschen, die sich vor dem Haus auf dem Bürgersteig treffen. Von ihrem Fenster aus beobachtet die Frau, wie Emily ihre erste Liebe Gerald kennenlernt, wie beide eine Gruppe aufbauen, mit der sie Lebensmittel organisieren, sich ein Haus erobern, um dort eine verschworene Gemeinschaft zu bilden. Eifersüchteleien und Geralds absoluter Helferoptimismus bringen Emily wieder zurück zu ihrem verlassenen Hund und der alten Dame. Gerald bleibt bei einer Gruppe unheimlicher Kinder, die offensichtlich von ihren Eltern zurückgelassen und schon im Kleinkindalter sich selbst überlassen wurden. Diese furchteinflößenden Geschöpfe ohne Werte und unfähig zu sozialen Bindungen greifen Passanten an, töten Tiere und auch Menschen. Emily kann Gerald knapp vor der Rache der wilden Kinder retten und ihn mit zur alten Dame nehmen. Gerald wehrt sich dagegen, die rohen Kinder aufzugeben, weil er ihre Hilflosigkeit spürt und für sich selber eine Art Ehrencodex hat, den er nicht bereit ist aufzugeben.

Eingewoben in die Schilderung dieser Erlebnisse sind Visionen der Ich-Erzählerin, in denen, hervorgerufen durch Erinnerungen an zerstörte Zimmer, sich eine Familiengeschichte entwickelt, die von den psychischen Quälereien einer herzlosen Mutter erzählt. Das gequälte Kind, Emily und die alte Dame verschmelzen in diesen Visionen und so bleibt der Leser am Ende mit vielen Fragen allein, aber auch mit einem Blick in eine schlimme mögliche Zukunft, der letzten Endes auch die Menschlichkeit geopfert wird.